Nach den wilden Streitigkeiten über Corona-Impfung und Russlands Krieg wünsche ich mir zu Weihnachten eine neue Diskurskultur.

Alois Czipin

UNTER DIE GÜRTELLINIE. Anfang 2021 wird der große Gamechanger in allen Medien verkündet: Die Corona-Impfung ist endlich da und wird Publici-ty-wirksam einer älteren Österreicherin verabreicht. Ich bin begeistert, weil ich glaube, dass damit diese grauenhafte Krankheit besiegt ist. Ich melde mich, sobald es möglich ist, zur Impfung an und freue mich auf den ersten Stich.
Ich bemerke aber auch, dass es Stimmen gegen die Impfung gibt. Ich bin zunächst der Meinung, dass sich diese Opposition wegen Haltlosigkeit der Argumente bald in Luft auflösen wird. Doch die Realität belehrt mich eines Besseren: Sehr rasch fliegen in meinem Umkreis die Fetzen.

Nach den wilden Streitigkeiten über Corona-Impfung und Russlands Krieg wünsche ich mir zu Weihnachten eine neue Diskurskultur.

Alois Czipin

UNTER DIE GÜRTELLINIE. Anfang 2021 wird der große Gamechanger in allen Medien verkündet: Die Corona-Impfung ist endlich da und wird Publici-ty-wirksam einer älteren Österreicherin verabreicht. Ich bin begeistert, weil ich glaube, dass damit diese grauenhafte Krankheit besiegt ist. Ich melde mich, sobald es möglich ist, zur Impfung an und freue mich auf den ersten Stich.
Ich bemerke aber auch, dass es Stimmen gegen die Impfung gibt. Ich bin zunächst der Meinung, dass sich diese Opposition wegen Haltlosigkeit der Argumente bald in Luft auflösen wird. Doch die Realität belehrt mich eines Besseren: Sehr rasch fliegen in meinem Umkreis die Fetzen.

Ich erlebe wüste Auseinandersetzungen im Familien- und Freundeskreis. Ich entdecke an mir neue Seiten: Im Rahmen dieser Diskussionen werde ich sehr emotional, was so weit führt, dass ich unter die Gürtellinie gehe und beleidigend werde. Sehr unangenehme Auswirkungen gibt es im beruflichen Umfeld: Es kommt zu Auseinandersetzungen mit Mitarbeiter:innen, mit denen ich schon sehr lange erfolgreich zusammenarbeite. In einem Fall wird ein solcher Konflikt in einem sozialen Medium ausgetragen, was zur Beendigung einer jahrzehntelangen Zusammenarbeit führt. Das gibt mir wirklich zu denken.

Das Einnehmen eines aus meiner Sicht unvernünftigen und falschen Standpunktes führt bei mir zu einem Gefühl, das ganz tief im Bauch sitzt und sich bis in das Gehirn fortpflanzt, wo es dann zu wahren Wutausbrüchen kommt. Nach emotionalen Ausbrüchen beginne ich nachzudenken: „Alois, was ist los mit dir? Warum wirst du gleich so beleidigend? Glaubst du wirklich, dass du so Menschen von deiner Meinung überzeugen kannst?“
Nach einem Abstand von mehr als einem Jahr stelle ich fest, dass niemand seinen Standpunkt geändert hat. Nur eines hat sich geändert: Es wird nicht mehr darüber gesprochen. Auch ich gehe diesem Thema einfach aus dem Weg.
Am 24. 2. 2022 um vier Uhr befinde ich mich in einem Schlafwagen von Wien nach Bregenz. Ich kann ausnahmsweise keinen tiefen Schlaf finden. Und so schaue ich auf mein Handy und finde eine Nachricht, die mich elektrisiert: Russland überfällt die Ukraine! Der von mir befürchtete Albtraum wird wahr, denn ich habe zwölf Jahre zuvor im Rahmen meiner Arbeit diesen latent vorhandenen Konflikt bereits wahrgenommen. Und so verstehe ich auch, dass dieser Konflikt nicht nur das Ergebnis einer Laune von Herrn Putin ist, sondern eine lange Geschichte hat. Ich verstehe, warum die Ukrainer Probleme mit dem großen russischen Bruder haben – aber auch, warum die Russen mit den Entwicklungen in der Ukraine und in den ehemaligen Ostblockstaaten (Stichwort: NATO- Osterweiterung) nicht einverstanden sind.

Ich erlebe wüste Auseinandersetzungen im Familien- und Freundeskreis. Ich entdecke an mir neue Seiten: Im Rahmen dieser Diskussionen werde ich sehr emotional, was so weit führt, dass ich unter die Gürtellinie gehe und beleidigend werde. Sehr unangenehme Auswirkungen gibt es im beruflichen Umfeld: Es kommt zu Auseinandersetzungen mit Mitarbeiter:innen, mit denen ich schon sehr lange erfolgreich zusammenarbeite. In einem Fall wird ein solcher Konflikt in einem sozialen Medium ausgetragen, was zur Beendigung einer jahrzehntelangen Zusammenarbeit führt. Das gibt mir wirklich zu denken.

Das Einnehmen eines aus meiner Sicht unvernünftigen und falschen Standpunktes führt bei mir zu einem Gefühl, das ganz tief im Bauch sitzt und sich bis in das Gehirn fortpflanzt, wo es dann zu wahren Wutausbrüchen kommt. Nach emotionalen Ausbrüchen beginne ich nachzudenken: „Alois, was ist los mit dir? Warum wirst du gleich so beleidigend? Glaubst du wirklich, dass du so Menschen von deiner Meinung überzeugen kannst?“
Nach einem Abstand von mehr als einem Jahr stelle ich fest, dass niemand seinen Standpunkt geändert hat. Nur eines hat sich geändert: Es wird nicht mehr darüber gesprochen. Auch ich gehe diesem Thema einfach aus dem Weg.
Am 24. 2. 2022 um vier Uhr befinde ich mich in einem Schlafwagen von Wien nach Bregenz. Ich kann ausnahmsweise keinen tiefen Schlaf finden. Und so schaue ich auf mein Handy und finde eine Nachricht, die mich elektrisiert: Russland überfällt die Ukraine! Der von mir befürchtete Albtraum wird wahr, denn ich habe zwölf Jahre zuvor im Rahmen meiner Arbeit diesen latent vorhandenen Konflikt bereits wahrgenommen. Und so verstehe ich auch, dass dieser Konflikt nicht nur das Ergebnis einer Laune von Herrn Putin ist, sondern eine lange Geschichte hat. Ich verstehe, warum die Ukrainer Probleme mit dem großen russischen Bruder haben – aber auch, warum die Russen mit den Entwicklungen in der Ukraine und in den ehemaligen Ostblockstaaten (Stichwort: NATO- Osterweiterung) nicht einverstanden sind.

KEIN WEG ZUEINANDER. Auch aus diesem Konflikt ergeben sich Diskussionen, die genauso erbittert geführt werden wie die im Rahmen der Pandemie. Auch in diesem Konflikt bilden sich rasch zwei Fronten: die „Russland-Verteufler“ gegen die „ Russland-Versteher“. Ich finde mich aufseiten der „Russland-Versteher“, ohne damit den Krieg gutzuheißen, und komme damit in eine ähnliche Situation wie die Corona-Leugner.
Einmal im Monat bin ich mit meinen besten Freunden im Austausch. Schon seit Ausbruch des Krieges werden die Argumente immer heftiger vor-getragen und lassen erkennen, dass es da keinen Weg zueinander gibt. Nach den Sachargumenten geht es dann ins Persönliche. „Du bist ja völlig blauäugig!“, „Du hast keine Ahnung und lässt dich von den Medien manipulieren!“ etc. Ich selbst nehme an diesen virtuellen Diskussionen nicht teil und hebe mir meine Argumente für persönliche Treffen auf. Manchmal geht es dann richtig zur Sache. Aufgrund meiner Erfahrungen bilde ich mir ein, die „Wahrheit“ zu kennen, und vertrete meinen Stand-punkt sehr vehement. Ich spüre es, dass ich das mit einem emotionalen Unterton vorbringe. Die Diskussion wird immer hitziger, bis sie nach einer Beleidigung meinerseits – „du bist ja ein Volltrottel!“ – in eisigem Schweigen endet. Nach einer Abkühlungsphase entschuldige ich mich und entscheide, mich zu diesem Thema nicht mehr zu äußern. Und so bleibt in dieser Runde das Thema tabu.

In der Firma halte ich es von Beginn an so, denn im bunten Nationenmix aus Russen, Ukrainern, Ungarn etc. erwarte ich mir – so wie bei Corona – keine fruchtbringenden Diskussionen.
Mein dringlichster Weihnachtswunsch für dieses Jahr: eine Diskurskultur, in der es möglich ist, über unterschiedliche Standpunkte hinweg die Gesprächskanäle offenzuhalten und damit die Ausbrüche von heißen Konflikten zu verhindern.

KEIN WEG ZUEINANDER. Auch aus diesem Konflikt ergeben sich Diskussionen, die genauso erbittert geführt werden wie die im Rahmen der Pandemie. Auch in diesem Konflikt bilden sich rasch zwei Fronten: die „Russland-Verteufler“ gegen die „ Russland-Versteher“. Ich finde mich aufseiten der „Russland-Versteher“, ohne damit den Krieg gutzuheißen, und komme damit in eine ähnliche Situation wie die Corona-Leugner.
Einmal im Monat bin ich mit meinen besten Freunden im Austausch. Schon seit Ausbruch des Krieges werden die Argumente immer heftiger vor-getragen und lassen erkennen, dass es da keinen Weg zueinander gibt. Nach den Sachargumenten geht es dann ins Persönliche. „Du bist ja völlig blauäugig!“, „Du hast keine Ahnung und lässt dich von den Medien manipulieren!“ etc. Ich selbst nehme an diesen virtuellen Diskussionen nicht teil und hebe mir meine Argumente für persönliche Treffen auf. Manchmal geht es dann richtig zur Sache. Aufgrund meiner Erfahrungen bilde ich mir ein, die „Wahrheit“ zu kennen, und vertrete meinen Stand-punkt sehr vehement. Ich spüre es, dass ich das mit einem emotionalen Unterton vorbringe. Die Diskussion wird immer hitziger, bis sie nach einer Beleidigung meinerseits – „du bist ja ein Volltrottel!“ – in eisigem Schweigen endet. Nach einer Abkühlungsphase entschuldige ich mich und entscheide, mich zu diesem Thema nicht mehr zu äußern. Und so bleibt in dieser Runde das Thema tabu.

In der Firma halte ich es von Beginn an so, denn im bunten Nationenmix aus Russen, Ukrainern, Ungarn etc. erwarte ich mir – so wie bei Corona – keine fruchtbringenden Diskussionen.
Mein dringlichster Weihnachtswunsch für dieses Jahr: eine Diskurskultur, in der es möglich ist, über unterschiedliche Standpunkte hinweg die Gesprächskanäle offenzuhalten und damit die Ausbrüche von heißen Konflikten zu verhindern.