Bei einem Projekt in Nikopol trank ich 2008 mit Russen und Ukrainern ein Glas Wodka darauf, dass ein Krieg heute nicht mehr vorstellbar ist …

Alois Czipin

ICH BIN FASSUNGSLOS, als meine Augen auf die Schlagzeile fallen: „Raketenangriff auf das AKW Saporischschja – Teile des Kraftwerks in Brand geschossen!“ Wehmütig denke ich 13 Jahre zurück und erinnere mich, als ich die sechs Reaktoren dieses größten Kernkraftwerks Europas bei meinen Morgenläufen am anderen Ufer des Dnjepr in der aufgehenden Sonne gesehen habe.

Bei einem Projekt in Nikopol trank ich 2008 mit Russen und Ukrainern ein Glas Wodka darauf, dass ein Krieg heute nicht mehr vorstellbar ist …

Alois Czipin

ICH BIN FASSUNGSLOS, als meine Augen auf die Schlagzeile fallen: „Raketenangriff auf das AKW Saporischschja – Teile des Kraftwerks in Brand geschossen!“ Wehmütig denke ich 13 Jahre zurück und erinnere mich, als ich die sechs Reaktoren dieses größten Kernkraftwerks Europas bei meinen Morgenläufen am anderen Ufer des Dnjepr in der aufgehenden Sonne gesehen habe.

Im Hochsommer 2008 erreicht mich der Anruf des Eigentümers eines großen Rohrwerks in Nikopol, einer mittelgroßen Stadt in der Nähe von Dnipropetrowsk. Er fragt mich, ob ich mir vorstellen kann, ihm zu helfen, die Produktivität der Fabrik zu steigern. Nach Investitionen von 100 Millionen Dollar in eine neue Strangpresse und andere Anlagen müssen Abläufe optimiert sowie die Kultur des Unternehmens leistungsorientierter werden. Er hat drei Berater zur Angebotslegung eingeladen. Natürlich bin ich an einem Projekt in der Ukraine interessiert. Es riecht so richtig nach echtem Abenteuer – ganz mein Geschmack.
Nach einer ersten Analyse und einigen Gläsern Wodka bekommen wir den Zuschlag. Unsere faktenorientierte Herangehensweise hat überzeugt, sodass wir Anfang 2009 mit dem Projekt beginnen. Ich nominiere auch ein Team, das bereit ist, ein ganzes Jahr lang in Nikopol zu arbeiten und nur jede dritte Woche nach Hause zu fahren. Ich selbst fahre regelmäßig dorthin, um vor Ort den Fortschritt zu spüren.
Im Vorfeld stellt auch der Kunde ein großes Team zusammen. Unter unserer Führung werden Mitarbeiter aus Produktion, Vertrieb, Controlling und F&E zur Mitarbeit ausgewählt. Letztlich besteht dieses Team aus 20 Personen: Österreichern, Russen, Ukrainern und Bulgaren. Teamsprache ist Englisch, aber ich bin immer wieder fasziniert vom Sprachenwirrwarr im Projektbüro. Die Leute bekommen ein klares Ziel: eine leistungsorientierte Unternehmenskultur zu entwickeln und die Produktivität zu steigern! Mit mulmigem Gefühl angesichts der zusammengewürfelten Truppe denke ich mir: „Möge die Übung gelingen!“

Im Hochsommer 2008 erreicht mich der Anruf des Eigentümers eines großen Rohrwerks in Nikopol, einer mittelgroßen Stadt in der Nähe von Dnipropetrowsk. Er fragt mich, ob ich mir vorstellen kann, ihm zu helfen, die Produktivität der Fabrik zu steigern. Nach Investitionen von 100 Millionen Dollar in eine neue Strangpresse und andere Anlagen müssen Abläufe optimiert sowie die Kultur des Unternehmens leistungsorientierter werden. Er hat drei Berater zur Angebotslegung eingeladen. Natürlich bin ich an einem Projekt in der Ukraine interessiert. Es riecht so richtig nach echtem Abenteuer – ganz mein Geschmack.
Nach einer ersten Analyse und einigen Gläsern Wodka bekommen wir den Zuschlag. Unsere faktenorientierte Herangehensweise hat überzeugt, sodass wir Anfang 2009 mit dem Projekt beginnen. Ich nominiere auch ein Team, das bereit ist, ein ganzes Jahr lang in Nikopol zu arbeiten und nur jede dritte Woche nach Hause zu fahren. Ich selbst fahre regelmäßig dorthin, um vor Ort den Fortschritt zu spüren.
Im Vorfeld stellt auch der Kunde ein großes Team zusammen. Unter unserer Führung werden Mitarbeiter aus Produktion, Vertrieb, Controlling und F&E zur Mitarbeit ausgewählt. Letztlich besteht dieses Team aus 20 Personen: Österreichern, Russen, Ukrainern und Bulgaren. Teamsprache ist Englisch, aber ich bin immer wieder fasziniert vom Sprachenwirrwarr im Projektbüro. Die Leute bekommen ein klares Ziel: eine leistungsorientierte Unternehmenskultur zu entwickeln und die Produktivität zu steigern! Mit mulmigem Gefühl angesichts der zusammengewürfelten Truppe denke ich mir: „Möge die Übung gelingen!“

Mich beschäftigt auch die Frage, was mich wohl an diesen mir bis dato völlig unbekannten Ort gebracht hat. Ich weiß natürlich, dass mein Vater im Krieg und danach zehn Jahre in der Ukraine und in Russland verbringen musste. Aber was hat mich gerade nach Nikopol verschlagen? Auf einem Rückflug on Dnipropetrowsk arbeite ich auf meinem Computer. Dabei stolpere ich über die Memoiren meines Vaters. Ich öffne sie gedankenverloren und suche den Teil über seine Zeit in der Ukraine. Mir rinnt es kalt über den Rücken, als ich lese, dass er zuvor einer der Letzten war, die dem Kessel um Stalingrad entkommen sind. Und plötzlich sehe ich den Namen Nikopol. Wie elektrisiert fahre ich fort: Er war ein halbes Jahr dort stationiert, um eine strategisch wichtige Brücke über den Dnjepr vor den vorrückenden Sowjets zu verteidigen. Benommen blicke ich aus dem Fenster auf die ukrainische Tiefebene und versinke in Gedanken an meinen Vater.

Zwei Wochen später unterhalte ich mich mit dem geschichtsinteressierten Produktionsvorstand, ob er etwas über diese Brücke weiß. „Ja, sie hat existiert, wurde aber von den Sowjettruppen im Februar 1944 zerstört und nie wieder aufgebaut. Ein Brückenkopf ragt aber noch aus dem Wasser.“
Bei meinem nächsten Aufenthalt begeben wir uns an einem heißen Sommertag mit einem kleinen Motorboot zu dem Brückenpfeiler. Ein Teil des Projektteams – bestehend aus Russen, Ukrainern und Österreichern – ist mit mir an Bord. Der Dnjepr ist inzwischen an dieser Stelle aufgestaut und daher einige Kilometer breit. Lange sehe ich nichts. Als ich den Betonpfeiler wahrnehme, wird es ganz still im Boot. Langsam gleiten wir näher und näher. Mich erfasst eine eigenartige Stimmung. Der Motor wird ausgeschaltet. Ich strecke meine Hand aus und berühre den Pfeiler, den mein Vater 65 Jahre zuvor mit seinem Leben gegen die anstürmende Rote Armee verteidigt hat. Ich bin ganz ergriffen von diesem Relikt aus einer dunklen Zeit.
Zurück am Ufer gehen wir in eine Taverne, die um einige Überreste dieser ehemaligen Brücke gebaut wurde. Wir sitzen mit Wodkagläsern in der Hand und trinken auf die Gegenwart, in der ein Krieg zwischen den anwesenden Nationalitäten nicht mehr vorstellbar ist.

Heute denke ich dankbar, aber auch sehr traurig an diese Zeit zurück – und kann es jeden Morgen aufs Neue nicht fassen, dass genau dort wieder die Waffen sprechen und den Weltfrieden ernsthaft bedrohen.

Mich beschäftigt auch die Frage, was mich wohl an diesen mir bis dato völlig unbekannten Ort gebracht hat. Ich weiß natürlich, dass mein Vater im Krieg und danach zehn Jahre in der Ukraine und in Russland verbringen musste. Aber was hat mich gerade nach Nikopol verschlagen? Auf einem Rückflug on Dnipropetrowsk arbeite ich auf meinem Computer. Dabei stolpere ich über die Memoiren meines Vaters. Ich öffne sie gedankenverloren und suche den Teil über seine Zeit in der Ukraine. Mir rinnt es kalt über den Rücken, als ich lese, dass er zuvor einer der Letzten war, die dem Kessel um Stalingrad entkommen sind. Und plötzlich sehe ich den Namen Nikopol. Wie elektrisiert fahre ich fort: Er war ein halbes Jahr dort stationiert, um eine strategisch wichtige Brücke über den Dnjepr vor den vorrückenden Sowjets zu verteidigen. Benommen blicke ich aus dem Fenster auf die ukrainische Tiefebene und versinke in Gedanken an meinen Vater.

Zwei Wochen später unterhalte ich mich mit dem geschichtsinteressierten Produktionsvorstand, ob er etwas über diese Brücke weiß. „Ja, sie hat existiert, wurde aber von den Sowjettruppen im Februar 1944 zerstört und nie wieder aufgebaut. Ein Brückenkopf ragt aber noch aus dem Wasser.“
Bei meinem nächsten Aufenthalt begeben wir uns an einem heißen Sommertag mit einem kleinen Motorboot zu dem Brückenpfeiler. Ein Teil des Projektteams – bestehend aus Russen, Ukrainern und Österreichern – ist mit mir an Bord. Der Dnjepr ist inzwischen an dieser Stelle aufgestaut und daher einige Kilometer breit. Lange sehe ich nichts. Als ich den Betonpfeiler wahrnehme, wird es ganz still im Boot. Langsam gleiten wir näher und näher. Mich erfasst eine eigenartige Stimmung. Der Motor wird ausgeschaltet. Ich strecke meine Hand aus und berühre den Pfeiler, den mein Vater 65 Jahre zuvor mit seinem Leben gegen die anstürmende Rote Armee verteidigt hat. Ich bin ganz ergriffen von diesem Relikt aus einer dunklen Zeit.
Zurück am Ufer gehen wir in eine Taverne, die um einige Überreste dieser ehemaligen Brücke gebaut wurde. Wir sitzen mit Wodkagläsern in der Hand und trinken auf die Gegenwart, in der ein Krieg zwischen den anwesenden Nationalitäten nicht mehr vorstellbar ist.

Heute denke ich dankbar, aber auch sehr traurig an diese Zeit zurück – und kann es jeden Morgen aufs Neue nicht fassen, dass genau dort wieder die Waffen sprechen und den Weltfrieden ernsthaft bedrohen.